Die Erklärung des ersten Kapitels Luce

(das doch eyn yeder lernte mit eynem halb Aug sehen)

Die Erklärung des ersten Kapitels Luce

Nun da das Jahrhundert geht, ist auch der Sozialismus als Wirklichkeit fast ganz aus der Welt, als der Versuch einer Emanzipation von einem Dasein, das den ökonomischen Kreisläufen und Trennungen unterworfen bleibt, in seinen heroischen und jämmerlichen Gestalten. Zurück in diesem Moment.

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„Als das begann, was wir die “Neuzeit/Moderne” oder Kapitalismus nennen, predigte Thomas Müntzer in Thüringen. Halbe Tage sind die Bauern und Bergarbeiter gelaufen, um ihn zu hören. 1524 gelangt eine Schrift in den Druck. “Die Ausgedrückte Entblößung des falschen Glaubens”. Sie wird sofort beschlagnahmt, 300 Exemplare vernichtet, 100 bleiben erhalten. Diese Schrift ist der Gegenstand des Films. Was für ein Leben war da gewollt oder verteidigt? Ein halbes Jahr später stirbt Müntzer mit 6000 Bauern in der letzten Schlacht des thüringischen Bauernkrieges. Der Schlachtberg ist das erste Bild des Films. Der Film ist den Bergarbeitern des Eichsfeldes gewidmet.“

Andreas Goldstein, 1999

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„Der Film beginnt mit einem Bericht von Bauernaufständen im 16. Jahrhundert, setzt sich in einer Kette von Landschaften fort, dem tatsächlichen Ort der Kämpfe und endet mit einer Predigt von Thomas Müntzer. Der Bericht, die Landschaften und die Predigt gehören zu derselben Geschichte, der Geschichte der erschlagenen Revolte und sie erzählen sie drei Mal, jedes Mal als Ganzes. Die lineare Abfolge stellt keine kausale Verbindung her. Der Film ist weder eine historische Rekonstruktion, noch eine Verkleidung des Jetzt in den Kostümen der Vergangenheit, noch die Verspottung der Vergangenheit durch das elende lnventar der Gegenwart.

Die Kamera verteidigt dieses “Weder-noch” durch die gewählte Entfernung – keine Werbeschilder im Bild, aber auch keine Großaufnahmen der Kirchtürme. Die thüringische Landschaft wird hier nicht zum Material, sondern bleibt ein Stoff, nicht zur Verarbeitung bestimmt, einfach vorhanden. Die Filmarbeit erscheint hier als eine fast pathetische Anstrengung, etwas dasein zu lassen. Volker Tancke, der die Müntzersche Predigt aus dem Jahre 1524 rezitiert, ohne in ein Schauspiel abgleiten zu dürfen –was dem Verzicht auf die rettende Mittelbarkeit gleichkommt– wiederholt diese Anstrengung in der Sprache.

Die Energie, die dabei frei wird, trägt die Bedeutung des Gesagten weiter, auch wenn die Zuschauer dem labyrinthisch erscheinenden Mittelhochdeutsch mitunter nicht folgen mögen. Man hört trotzdem: Diese Rede, eine Morddrohung und ein Gebet, ein Fluch und ein Verzweiflungsschrei zugleich, ruft nicht nur zum Aufstand – sie selber ist schon der Aufstand.“

Olga Fedianina, 1999

  • Text:
    Thomas Müntzer „Die Ausgedrückte Entblößung des falschen Glaubens“ 1524
    Musik:
    Hans Eisler aus der „Deutschen Sinfonie“
  • Sprecher:
    Volker Tancke
  • Mitarbeit:
    Regine Spangenthal
  • Kamera:
    Axel Schneppat
  • Ton:
    Gunnar Schlafmann
  • Schnitt:
    Elke von Sivers, Jörg Nußbaum
  • Produktion:
    Ute Hirschberg, Holger Lochau
  • 1998
  • 35 mm, Farbe, 36 min, l:1,37, Lichtton, Stereo
  • Eine Co-Produktion von Andreas Jakob Goldstein
    mit der HFF „Konrad Wolf“